Stoffgiraffen gegen Depressionen

Von Alexandra Wrann · 03.08.2013
Etwa jeder dritte Erwachsene erkrankt laut aktuellen Studien im Laufe seines Lebens an einer psychischen Störung. Nach einer Therapie fällt den Betroffenen der Weg zurück in den Alltag oft schwer. In Hamburg hilft dabei die Mode-Boutique "Rosenblatt und Fabeltiere".
Langsam schiebt Regina Schwarz den blauen Jeans-Stoff unter der Nadel der Nähmaschine hindurch. Die Augen konzentriert zusammengekniffen, setzt die 47-Jährige sorgfältig Stich für Stich. Aus den beiden etwa 20 Zentimeter langen Jeans-Stücken soll eine Stoff-Giraffe entstehen, ein Spielzeug für Babys. Noch ist nicht wirklich zu erkennen, dass die vier ausgeschnittenen Rundungen Beine, Ohren und Kopf darstellen sollen.

"Ja, also, es gibt ja bestimmte Stellen, wo man ziemlich langsam nähen muss. Also da an den Kurven zum Beispiel, so da am Halsbereich hier, ist ja 'ne ziemliche Kurve."

Gelernt hat Schwarz das Handwerk nicht. Für sie hat es eine therapeutische Funktion. Sie leidet an Depressionen. Ausgelöst wurde die Krankheit vor wenigen Jahren:

"Also betriebsbedingt hab ich eine Stelle verloren und daraufhin hab ich 'ne Depression bekommen. Ja, dann zog sich das, dann hab ich eben auch andere Stellen verloren, weil ich Depressionen hatte. Und dann bin ich eben auf staatliche Hilfe angewiesen gewesen."

Alle Mitarbeiter sind psychisch krank
Dem Teufelskreis aus Scham, Antriebslosigkeit und Isolation entkam sie nur mithilfe einer Therapie und Medikamenten. Um langsam wieder in einen normalen Alltag zu finden, kommt sie seit zwei Jahren viermal pro Woche für wenige Stunden hier in die kleine Mode-Boutique Rosenblatt und Fabeltiere. Schwarz ist eine von derzeit zwölf Mitarbeitern, die hier Babyspielzeug und Kleidung fertigen und im Laden verkaufen. Sie alle leiden an einer psychischen Krankheit. Ängste, Zwangsstörungen, Schizophrenie oder eben Depressionen.

Tagtäglich acht Stunden Arbeiten gehen, ist für sie unmöglich. Deswegen arbeiten sie hier in der Boutique - an ein, zwei oder auch mehreren Tagen in der Woche. Sie entwerfen und zeichnen Motive, bedrucken T-Shirts, nähen Stofftiere, beraten die Kunden, machen die Buchhaltung.

Ins Leben gerufen wurde das Modelabel "Rosenblatt & Fabeltiere" von Katja Stechemesser, einer Psychologin. Sie steht im kleinen Verkaufsraum und zeigt die Kollektion: Babylätzchen, Bodies, Mützchen, aber auch Damen-Kleidung, Shirts und Tops.

Stechemesser erzählt: Bei ihrer Arbeit in einem betreuten Wohnprojekt hat sie immer wieder festgestellt: Passende Arbeitsmaßnahmen für psychisch Kranke sind rar - und oft sind die Anforderungen zu hoch:

"Es gibt viele Sachen, da muss man doch mindestens so mit 15, 20 Stunden die Woche loslegen. Und wir hatten einfach ein Klientel, die haben das nicht geschafft."

Andere Arbeitsprogramme setzten zu viel voraus
Lange Anfahrtswege, der Umgang mit fremden Menschen, Arbeitsdruck - all das war zu viel für die Menschen, die täglich mit Antriebslosigkeit, Ängsten, Minderwertigkeitsgefühlen zu kämpfen hatten. Also beschlossen Stechemesser und ihr damaliger Kollege vor sechs Jahren: Wir schaffen unser eigenes Arbeitsprogramm.

Ein Teilnehmer in einem ergotherapeutischen Malkurs lieferte die Geschäftsidee: Er zeichnete Schildkröten, Vögel, Walrösser, lustige, bunte Monster und kleine Fabelwesen, Stechemesser druckte sie auf Kinder-Shirts. Fertig war die erste Kollektion, die sich schnell verkaufte. Kurz darauf mieteten sie die freie Ladenfläche nebenan. Und hatten ihre eigene Boutique eröffnet, ein ganz normales Geschäft. Wer drinnen arbeitet, erkennt der Kunde nicht. Für Klientin Regine Schwarz ist die Arbeit hier ein großer Schritt in Richtung Normalität:

"Es war so, dass ich mein Selbstvertrauen verloren hatte, auch, was so Arbeit anbelangte. Und, ja, so neuen Mut gefasst habe, in dem Moment, wo ich hier angefangen habe. Erst wusste ich auch nicht, ob ich mir das so zutraue, hab aber relativ schnell gemerkt, dass ich das bewältigen kann und dass mir das Spaß bringt und dass ich jeden Tag einen Anlaufpunkt habe, wie als wenn ich zur Arbeit gehen würde."

Das bestätigt auch Psychologin Stechemesser. Therapie alleine, davon ist sie überzeugt, reicht langfristig oft nicht aus:

"Kann man das nicht wegtherapieren, wenn jemand keine Aufgabe hat, also … Wenn ich depressiv bin und dann noch irgendwie das Gefühl habe, die Welt braucht mich nicht mehr - und das ist schon so 'ne Abwärtsspirale: Je länger das so ist, desto mehr habe ich das Gefühl: Joa, ich auch irgendwie zu nichts nütze. Ja, und das heißt, immer mehr Erkrankungen, Behandlungen, stationäre Aufenthalte, was auch immer. Was natürlich dann auch wieder immense Kosten eigentlich sind."

Nach gut zwei Stunden kniffliger Näh- und Ausstopfarbeit ist die kleine Stoff-Giraffe fertig. Noch traut sich Regine Schwarz eine feste Stelle nicht zu; doch in einigen Monaten, so hofft sie, kann sie vielleicht wieder in ihren alten Beruf in der Fitnessbranche zurückkehren.

Um kurz vor sechs packt Regine Schwarz ihre Nähsachen in einen Pappkarton. Und greift sich die Geldkassette am Einkaufstresen.

Ein paar Postkarten, Wachsmalstifte, ein Kindershirt und zwei Bücher hat die Boutique heute verkauft. Ohne Fördermittel von Stadt und EU könnte "Rosenblatt & Fabeltiere" nicht existieren. Noch nicht: Künftig werden zehn Plätze als anerkannte therapeutische Maßnahme von Krankenkasse oder Rentenversicherung übernommen.

Die Kasse stimmt. Regine Schwarz fischt sich aus einer kleinen Box einen Schlüsselbund und zieht ihre Jacke an. Und schließt sorgfältig die Ladentür von außen ab - bis morgen hat sie die Verantwortung für den Ladenschlüssel - wie im richtigen Arbeitsleben.

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