Dienstag, 30. April 2024


Die »lyrix«-Gewinner im April 2014

Im April reiste »lyrix« zum Schillerhaus in Rudolstadt. Schillers "Reiseschreibzeug" lud dazu ein, sich mit dem Thema "LOSREI(S)SEN" zu befassen.

20.06.2014
    Im April stand »lyrix« im Zeichen des Reisens und Schreibens. Die Gedichte zeigen die Entstehung von eigenen Welten, nur mit Hilfe der Fantasie erschaffen. Einige beschreiben den Prozess des Gedichteschreibens, den Umgang mit Papier und Tinte. In anderen Texten begegnet uns auf der Suche nach Abenteuern das Unbekannte, die düsteren Seiten der großen Städte, Einsamkeit, Kriminalität und Armut. Auf Zugfahrten, Roadtrips und Touren in ferne Länder begleitet uns aber auch die Sehnsucht nach einer nicht greifbaren Freiheit und die Euphorie oder Ernüchterung am Ziel der Reise.
    Vielen Dank für eure Gedichte! Hier kommen die Top 5:
    Paris
    Wir ziehen viele Meter
    unter der Erde hin,
    ich frage nicht nach morgen
    ich frag nicht
    wer ich bin.
    Ich sehe mich im Spiegel
    des schwarz-hellblauen Lichts,
    und weiß ich, all mein Schaudern,
    all das bedeutet nichts.
    Denn hunderte von Metern
    und über mir die Stadt,
    bin ich frei von allem,
    was je zerstört mich hat.
    Ich höre
    die Sirenen
    betörend, fern und nah,
    ich weiß nicht mehr
    wer bin ich?
    Ich weiß nicht
    wer ich war.
    Und ich koste eine Freiheit
    die mich längst ergriffen hat
    sie zerfließt in meinem Mund
    und
    ich trink' mich niemals satt.
    Wir ziehen im Tiefdunkeln,
    rasch unter ihr dahin,
    ich frage nicht nach heute
    frag' nicht mal, wer ich bin.
    Denn ich fiel so lang
    so frei,
    sie fängt mich auf
    die Stadt,
    die Schönste aller Damen,
    die mich heut' gerettet hat.
    (Julia Fourate aus Nordhofen, Mons-Tabor-Gymnasium, Jahrgang 1994)
    Das Land der Phantasie
    Was bewegt den Mensch zum Schreiben?
    Mit flinker Feder sich die Zeit vertreiben,
    Und sein ganzes Herz der Kunst geweiht,
    Ist nur ein wahrer Schöpfer stets bereit,
    Auf seiner Flucht ins allzu fremde Land,
    In dem er sich als kleines Kind schon fand,
    Den Phantasien freien Lauf zu lassen,
    So wird er auf Papier ein Werk verfassen.
    Er wird hoffen, zittern, er wird bangen,
    Nimmt den Leser in der Welt gefangen,
    Die ihm einst so viel bedeutet hat,
    Bevor er jene Leut' zum Eintritt bat.
    (Christopher Gerling aus Hersdorf, Regino-Gymnasium Prüm, Jahrgang 1996)
    Selbstfindung
    Zeit geht vorbei,
    wir verpassen das Leben,
    sehen uns stehen,
    im Regen des Strebens.
    Gefangen in unserer eigenen Welt,
    einer Hülle des Schutzes,
    aber von keinem Nutzen,
    suchen wir vergeblich nach Leben.
    Wir müssen das Heim verlassen,
    das Leben beginnen,
    sammeln verstehen
    und alles erleben.
    Es heißt Erfahrungen zu sammeln,
    aus ihnen zu lernen,
    Reisen zu machen
    und Weisheiten zu erlangen.
    Es heißt Menschen zu treffen,
    von ihnen zu lernen,
    Eindrücke zu fangen,
    um bescheidener zu werden.
    Um die Tore zu sehen,
    durch die wir gehen,
    wenn wir uns auf die Reise begeben.
    Wir finden alles neu,
    weil es uns unbekannt erscheint,
    doch im Nachhinein lernen wir:
    Zu staunen, unser Herz zu öffnen
    und die Welt zu lieben,
    denn alles ist anders,
    jede Straße anders gepflastert,
    jeder Baum anders gepflanzt
    und jedes Haus anders gebaut.
    (Corinna Haenlein aus Misteglau, Gesamtschule Hollfeld, Jahrgang 1995)
    ich reise
    doch
    (Hannover): packen, sortieren, bangen
    im Kopfe schon lange fort
    das Wehen der Ferne summt wohlig
    ach, das Gefühl eines nassen,
    flüchtenden Fisches in der zappelnden Menge
    das treibt mich
    derweil
    (Hamm): ich atme, lache, erwarte
    es sitzen die anderen dort, jeder allein
    ihre Hände beim Denken drehen das Haar
    seine umklammern die schmale Silhouette
    die ein angebissener Apfel ziert
    dort spielt sein Leben
    ich jedoch breche auf
    meine trockene Nase an der feuchten Scheibe
    einen Augenblick
    (Düsseldorf): ganz fest, ganz kurz, wir harren aus
    pechschwarze Netze vor dem blauen Himmel
    hinter dem Glas eine rauschende Grüne
    es tut fast weh
    das sie entgleitet
    ich lausche ihrem rasenden Rattern
    viele Stunden lang
    bald
    (irgendwo:) frierend, müde, fast verloren
    es schwindet auch das Licht
    ein höhnendes Flackern in den Fenstern
    die Sitze sind alt und gar faltig
    vorbei rast an mir die Süße des Ungewissen
    ich atme sie ein, mehr nicht
    dann:
    (Köln:) Menschenmengen, verschwommene Gesichter, bald vergessen
    es reisst an mir eine leise Ahnung
    immer weiter,
    zu langen Treppen, zu fremden Gesichtern
    ich bin daheim
    mein Wesen, ein taumelnder Passagier in einem Fass
    keine Rast, bodenlos der Halt
    (Laura Irmer aus Holle, Goethegymnasium Hildesheim, Jahrgang 1996)
    Fifth Season Symphony (Frankfurt)
    Araber falten Nachtleichen auseinander, verteilen Zigaretten und Feuer
    Halbnackte Morgengraubären verhaspeln sich zu blecherner Laternenmusik
    Die Frauen kommen wieder.
    Nackte Zehen eines gebrochenen Fußes kleben auf dem Gehweg, seine Augen suchen auf der Straße den in Sirenen Verschwundenen
    Durch Wände denkend riecht man vorbezahltes gestocktes Sperma, Englisch Breakfast, gekaufte Lust zum Freundschaftspreis
    Ringelnde Wasserspeier fressen als Nattern der Gosse die Nachgeburten des Glücks vom Pflaster
    Am Himmel spiegelt sich eisiges Entsetzen, die Scheuklappen zum Polarsommer gebeugt
    Wenn nackte Ärsche Photosynthese betreiben könnten, hier stünde ein weißrussischer Birkenwald
    aber neben die pentatonische Gottesanbeterin gesellt sich die Spinne zum heiligen Kreuz, der Halbmond ist aus Scham verschwunden
    Oh, ihr Junkies seid die Unruh unserer Kindlichkeit, kreisende Träumer um unerforschte Lava, wenn ihr den Sud in die Straßen treibt und die Fliesen
    vor denen Eros sonnbrillenbeschirmt Erdhummeln Schutz bietet
    zum Gestirn verschwimmen
    Badet in euren fixen Quellen und bellt mit euren Seeadlerpupillen den Lachsen entgegen
    Eisbrecher im Polarmeer.
    Der süchtige Blick nach Begattung
    bezahlt die morgendliche Bestattung
    (Moritz Schlenstedt aus Dresden, Evangelisches Kreuzgymnasium, Jahrgang 1996)
    Und hier die Gewinner "außer Konkurrenz"
    (Jeder Teilnehmer kann maximal zweimal Leitmotivrundengewinner werden. Weitere eingesandte Gedichte werden trotzdem von der Jury bewertet. Sollte ein Gedicht nach Punkten unter den besten sein, wird es "außer Konkurrenz" veröffentlicht.)
    Der Weg
    Ich gehe weiter, ohne Ziel.
    Ein Windhauch weht, ein Blättlein fiel.
    Wo komm ich her, wo will ich hin?
    Die Antwort wäre ein Gewinn.
    Ich träum des Nachts von fernem Land,
    von vielen Freunden, Hand in Hand.
    Als Vogel flieg ich, froh und frei,
    du bist im Traume mit dabei.
    Ich reite schneller als der Wind,
    wir fliegen himmelwärts geschwind.
    Ich spüre Leben, froh und frei,
    du bist im Traume mit dabei.
    Das Mondlicht glitzert auf dem Meer,
    es sorgt für ganz besondren Flair.
    Ich schwimm mit Fischen, froh und frei,
    du bist im Traume mit dabei.
    Ein Windhauch weht, ein Blättlein fiel.
    Nun endlich habe ich ein Ziel.
    Wo will ich hin, was mach ich hier?
    Der Weg führt mich nach Haus zu dir!
    (Annabelle Kahmann aus Wuppertal, Gymnasium am Kothen, Jahrgang 1997)
    Wrigley's Extra
    Und jetzt hocke ich hier
    nichts zu essen nichts zu schreiben
    keine Ahnung wo ich schlafen soll
    in einer fremden großen Stadt
    einer Stadt die niemals schläft
    Ich wollte keine Abenteuer ich wollte einfach weg
    verlassen verdrängen vergessen
    aber das geht nicht denn auch der Lärm des Verkehrs
    kann meine Gedanken nicht übertönen
    Alles ist fremd die Menschen die Straßen die ganze Stadt
    Der Kanal ist auch fremd fremd und hässlich
    aber er hat ein Bett auch wenn es einbetoniert ist
    ich habe nichts außer dem Kaugummipapier in meiner Hosentasche
    und einem Bleistiftstummel
    Ich bin ein Robinson verloren und verlassen
    zwischen Lichtermeer und Wolkenkratzern und jeder Menge Werbung
    und ich bin allein und ein Staubkorn in dieser Stadt
    die eine Welt für sich ist
    Ich schreibe einige Worte auf das Papierchen
    dann stecke ich es in eine leere Flasche
    die hier so trostlos rumliegt wie ich
    mache den Deckel drauf und werfe sie in den Kanal
    Gestern bin ich abgehauen da war Mittwoch
    Heute bin ich hier gestrandet und es ist Donnerstag
    Morgen kommt Freitag.
    (Magdalena Wejwer aus Umkirch, Wentzinger Gymnasium, Jahrgang 1997)