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Zusammenhalt trotz Vielfalt

"Vielfalt und Zusammenhalt" - das Thema des Soziologentages 2012 umschreibt ein weites Feld und ist gleichzeitig ein gutes Motto. Denn die zunehmende Diversität der Gesellschaft in Lifestyles, Religionsgemeinschaften, politische Gruppierungen und ethnische Gruppen ist eine Herausforderung.

Von Ulrike Burgwinkel | 04.10.2012
    Die Zeit der Selbstvergewisserung scheint endgültig vorbei. Die Soziologie sieht sich wieder als Gesellschaftswissenschaft.

    Mit "Vielfalt und Zusammenhalt" ist ein riesiges Themenfass aufgemacht, das die äußerst verschiedenen Strömungen, Interessengebiete, Forschungsvorhaben des Fachs umfasst und somit vielen Soziologen einen Auftritt beim Kongress ermöglicht.

    "Vielfalt heißt natürlich zunächst einmal, dass etwas als different wahrgenommen wird, und das ist etwas, das immer im Wandel ist", "

    sagt Martina Löw, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

    ""Rothaarige wurden mal als extrem different wahrgenommen, heute nimmt man das irgendwie gar nicht mehr besonders auf. Auch Augenfarben waren mal ein ganz wichtiges Unterscheidungsmerkmal oder protestantisch-katholisch, das hat ganze Familien gespalten."

    Das ist lange her, heute sind es andere Differenzen, mit denen man umgehen und über die man nachdenken muss, denn sie produzieren Machtverhältnisse, politische Ideen.

    "Wenn Sie die Frage von Differenz verfolgen, dann stellt sich natürlich auch die Frage, wie kommen eigentlich tragfähige gemeinsame Entscheidungen zustande- wie handelt man eigentlich heutzutage im öffentlichen Interesse, was ist das eigentlich?"

    Einen alle Teile der Gesellschaft umfassenden Konsens in Bezug auf Überzeugungen, Verhalten oder beispielsweise Zukunftsplanung gibt es nicht mehr, eigentlich gab es ihn in Reinform nie. Heute spricht man von dem Mainstream der Minderheiten. Unübersichtlich und komplex.

    "Wir müssen natürlich permanent Komplexität reduzieren, sonst würden wir schlicht und einfach verrückt werden und ne Form von Komplexitätsreduktion ist ein Vorurteil oder ein Stereotyp. Was gefordert ist in einer modernen Gesellschaft ist, dieses Stereotyp immer wieder in Frage zu stellen, einfach wandlungsfähig zu bleiben. Das ist ne große Herausforderung, aber anders sind wir nicht überlebensfähig."

    Schubladen sind zwar praktisch: der Islam, die Rechten, die Banker, die Politiker, die Multis, aber die unterschiedlichen Ausprägungen des Islam, der Rechten usw. sprengen das Fassungsvermögen der Karteikästchen. Auch die Verhaltensoptionen für den Einzelnen waren im historischen Vergleich noch nie so zahlreich und unübersichtlich wie heute.

    "Das hat das Leben schon viel leichter gemacht, wenn man den Beruf ergriffen hat, den der Vater ausgeübt hat und wenn die Eltern den Ehemann ausgesucht haben- ich mein, das ist ja ein Drama! Ich meine, heute müssen wir das selber leisten, wir müssen rausfinden, was wir können und was wir wollen und dann sind wir uns noch nicht mal sicher, und dann müssen wir auch noch nen Partner finden und mittlerweile müssen wir auch noch entscheiden, ob wir hetero oder homosexuell sind - all diese vielen Formen: das ist natürlich überfordernd. Aber wir wollen nicht zurück."

    Wenn wir tatsächlich nicht zurück wollen, und wer will das schon, dann, und da sind wir wieder beim Thema, brauchen wir Zusammenhalt trotz Vielfalt und unübersehbarer Verhaltensoptionen. Löws Kollege Ronald Hitzler von der TU Dortmund spricht in diesem Zusammenhang von einer Minimalanforderung: tolerante Ignoranz oder ignorante Toleranz sei im Sinn einer alltäglichen friedlichen Koexistenz der vielen verschiedenen Minderheiten vonnöten.

    "Es geht mir um die hellen und die dunklen Seiten dessen, wenn sich Kollektive, wenn sich Menschengruppen erregen oder aufregen."

    Der 95-jährige ehemalige Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel hat mit seinem Buch "Empört Euch" einen Bestseller geschrieben und es scheint, als machten sich immer mehr Menschen seinen Imperativ zu eigen. Empörung, die sich in einer Demo oder Protestaktion äußert, gleicht oft einem Event. Solche Events sind seit den 90ern Forschungsgegenstand von Ronald Hitzler. In seinen Veröffentlichungen zur Love Parade 2010 in Duisburg beschreibt er das "Duisburg-Syndrom", ein übertragbares Phänomen. Vier Stufen der kollektiven Erregung kennzeichnen das Syndrom: Ekstase-Katastrophe-Trauerarbeit -soziale Reinigung. Diese gelten nicht nur für die Love Parade, so Hitzler, sondern ebenfalls zum Beispiel für Public Viewing, Fußballspiele oder für 1. Mai-Aktionen.

    "Sie haben vielfältige Formen der kollektiven Erregung. In jeder einzelnen kollektiven Erregung kommen Menschen zusammen, die nicht zusammengehören, sondern nur durch das, was stattfindet, zusammenkommen. Das gilt sowohl für die erwünschten Events als auch für die anderen Geschichten. Auf einmal taucht diese Vielfalt auf und wird aber zusammengehalten durch das Thema, um das es geht. Und nun geht es mir mit einer Reflexionsschleife noch mal weiter zur Frage: was verändert sich durch so etwas, so etwas wie das Zusammenleben, der Zusammenhalt in einer Stadt."

    Möglicherweise ändert sich ja nicht nur das Zusammenleben in einer Stadt, sondern auch zwischen Nationen und Kulturen. Aktuell wäre da die Frage nach den Mohammed-Karrikaturen und dem Umgang mit dem Hassvideo zu stellen, zumal in diesem Jahr die Türkei Gastland beim Soziologentag ist und man interessante Antworten und Ansichten erwarten dürfte. Ludger Pries gibt als Organisator des Soziologentreffens und Migrationsspezialist Antwort.

    "Wir haben ne Position dazu als Menschen, als Individuen, aber ich glaube, dass es angemessener ist für uns als Soziologinnen und Soziologen zu fragen: wie kommt es zu den Eskalierungen, wie kommt es dazu, dass Leute so ein Video produzieren, wie kommt es, dass ein solches Video diese Wirkungen entfalten kann und in dieser Analyse können wir sehr gut zeigen, dass Stereotypisierungen, die Reduktion von Islam auf etwas, was eigentlich wenig zu tun hat mit der Vielfalt der Äußerungen des Islam selber. Genauso wichtig sind die Stereotypisierungen auf der anderen Seite, bei den Rechtsradikalen."

    Konkrete Anschauung liefert Pries in den von ihm betreuten Exkursionen. Eine Besichtigung des Reviers wird angeboten, die mit den Bewohnern gemeinsam geplant und erarbeitet wurde. Mehrgenerationenquartiere, migrantische Unternehmen, Brautkleider, Moscheen und Hochöfen.

    "Wir wollen mit diesen drei Beispielen in Duisburg, Bochum und Dortmund zeigen, dass die Soziologie durchaus konkrete Lebenssituationen von Menschen und Initiativen von Organisationen analysieren und daran dieses Wechselspiel von Vielfalt und Zusammenhalt aufzeigen kann."

    Die klassischen Migrantenlebensläufe haben sich verändert, meint Pries, auch das soll bei den Exkursionen klar werden. Immer weniger kommen mit einem Koffer und bleiben. "Transnationale" heißen die überwiegend jungen, oft gut ausgebildeten Nationenwechsler.

    "Da gibt es die Kritik am nationalstaatlichen Containerdenken, dass wir glauben, wie in ner Zwiebelschale, wir leben lokal in ner Kommune, in nem Bundesland, dann kommt der Nationalstaat und dann kommt Europa. Aber letztlich leben viele Menschen zwischen zwei Lokalitäten, einem in Izmir und einem in Mühlheim an der Ruhr."