Dienstag, 30. April 2024

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Mündlich überliefert und wiederentdeckt

Auf drei neuen CDs beschäftigen sich Musiker mit Liedern aus Italien. Die Melodien wurden größtenteils mündlich überliefert oder in einstimmiger Form notiert. Das lässt Spielraum für unterschiedlichste Interpretationen.

Von Thomas Daun | 04.08.2013
    Gleich drei neu erschienene CDs widmen sich den musikalischen Traditionen Süditaliens. Die Idee ist bei allen Dreien eine ähnliche: Interpreten und Ensembles aus dem Bereich der historischen Aufführungspraxis beschäftigen sich mit Melodien, die größtenteils mündlich weitergegeben oder von Volkskundlern und Reisenden in einstimmiger Form notiert wurden. Was die Wahl des Repertoires, das Klangbild und den Interpretationsansatz angeht, sind die drei CDs jedoch äußerst unterschiedlich. Neapel, Sizilien und die Halbinsel Salento – also der Absatz des italienischen Stiefels – sind die musikalischen Reiseziele. Beginnen wir in der Stadt am Vesuv.

    Marco Beasley & das Ensemble Accordone: "Storie di Napoli"

    "Heiliger Michael, schütze mein Herz vor der brennenden Liebe;
    Heiliger Cyrus, schenk mir einen Penny für Essen und Trinken,
    Heilige Anna, spiel uns ein Lied, damit wir tanzen können…"


    "Ballo de li Sante" – Tanz der Heiligen – so der Titel dieser neapolitanischen Tarantella. Der charismatische Sänger Marco Beasley und das Ensemble Accordone unter der Leitung von Guido Morini legen mit "Storie di Napoli" ein buntes und abwechslungsreiches Album vor. Der lebhafte Rhythmus der Tarantella steht dabei im Mittelpunkt.

    "Der Charakter der Tarantella wird vor allem vom Rhythmus bestimmt. Der packt dich sofort und geht in den Körper, bringt dich zum Tanzen. Diese Mischung aus Tamburin, aus kräftiger Stimme, diese sehr eingängige Musik, die lenkt sofort die Aufmerksamkeit auf sich."

    Mit der Tarantella, der Canzone und der Straßenmusik wuchs Marco Beasley, Sohn eines englischen Vaters und einer Neapolitanerin, auf. Später widmete er sich der Alten Musik und wurde als Sänger italienischer Renaissance- und Barockmusik berühmt. Die traditionellen Klänge Süditaliens aber faszinieren ihn bis heute.

    "Ich bin kein echter Tarantella-Sänger. Ich liebe diese Lieder als Amateur. Für mich hat diese Musik dieselbe Würde wie ein Stück von Monterverdi, denn sie stammt aus derselben Zeit."

    Schon einhundert Jahre vor Monteverdi ließen sich Komponisten vom treibenden Rhythmus, den ohrwurmverdächtigen Melodien und ironischen Texten der neapolitanischen Musik inspirieren. Der Flame Adrian Willaert etwa, als Kapellmeister am Markusdom in Venedig eigentlich für geistliche Musik zuständig, bearbeitete schon im 16. Jahrhundert eine Canzone aus Neapel. Marco Beasley reduzierte die kunstvolle Komposition auf ihren musikalischen Kern – und fügte gleich ein paar neu gedichtete Strophen hinzu.

    Liuwe Tamminga: "La Tarantella nel Salento"

    Der holländische Organist Liuwe Tamminga spielte eine Tarantella an der Kirchenorgel von Casarano im Südzipfel der Halbinsel Salento; begleitet wurde er von Fabio Tricomi, italienischer Virtuose auf dem Tamburello, einer Schellentrommel aus der Volksmusik. Die Region Salento gilt als Herzland der Tarantella-Tradition. Hier hat der ekstatische Tanz, mit dem man in vergangenen Zeiten den Biss der Tarantel-Spinne zu heilen glaubte, bis in jüngste Zeit überlebt.

    Schon im 17. Jahrhundert machte der jesuitische Gelehrte Athanasius Kircher den Tarantismus zum Thema der Wissenschaft, sammelte Informationen über die erstaunliche Wirkung des Tanzes und notierte eine Reihe von Melodien. In der traditionellen Musik Süditaliens wird die Tarantella fast immer von Perkussionsinstrumenten begleitet; außerdem spielen auch Zupfinstrumente eine wichtige Rolle. Die Orgel erscheint in diesem Zusammenhang eher als unpassend, wurde sie doch meist für geistliche Musik genutzt. Die Kirchenoberen wetterten schon zu Barockzeiten gegen den Tarantismus, den sie als heidnischen Brauch empfanden. Jahrhunderte lang verhängte die Kurie immer neue Verbote, in der Kirche andere Instrumente zu spielen als die Orgel. Gerade diese hartnäckigen und regelmäßigen Versuche, traditionelle Klänge aus dem sakralen Raum zu verbannen, kann man als Indiz deuten, dass sich die Bevölkerung häufig über die Verbote hinwegsetzte.

    Liuwe Tamminga hat auf verschiedenen historischen Kirchenorgeln der Provinz Lecce im Salento Tarantellas aus Handschriften und Sammlungen vom 17. Jahrhundert bis heute eingespielt. Auch einige auskomponierte Stücke sind darunter – etwa die folgende Tarantella für Violine und Orgel von Gioachino Rossini.

    "Mama, du hast keinen Respekt mehr vor mir!
    Deshalb habe ich ihm geholfen durchs Fenster hereinzuklettern.
    Mir ist egal, was die Leute dazu sagen,
    Ich will keine alte Jungfer werden.
    Liebster, lass uns abhauen von hier – und dann heiratest du mich!"


    "Siciliane – The Songs of an island"

    Auch im Repertoire der sizilianischen Musik spielt die Tarantella eine wichtige Rolle. Die neue CD "Siciliane" des Ensembles Laboratorio 600 widmet sich jedoch darüber hinaus einem sehr viel breiteren Spektrum, wie schon der Untertitel "Songs of an Island" andeutet: religiöse Gesänge, instrumentale Serenatas und Tanzstücke, gespielt auf Laute, Harfe und Theorbe, Balladen und Wiegenlieder. Der Lautenist Franco Pavian - Leiter von Laboratorio 600 - wirkt auch im Ensemble Accordone mit. Für die Produktion der CD "Siciliane" arbeitete er mit dem süditalienischen Sänger Pino de Vittorio zusammen, der durch seine Arbeit als Folksänger und Theaterschauspieler seit Langem mit den musikalischen Traditionen seiner Heimat vertraut ist.

    Bei ihren Recherchen nutzten die Musiker unterschiedlichste Quellen, so etwa die handschriftlichen Notizen Giacomo Meyerbeers: zur Vorbereitung seiner Oper "Romilda e Costanza" bereiste der Komponist 1816 Sizilien und zeichnete eine große Anzahl traditioneller Lieder und Melodien auf. Aber auch die Sammlungen des sizilianischen Volkskundlers Alberto Favara aus dem 19. Jahrhundert oder Feldforschungsaufnahmen aus neuerer Zeit dienten Laboratorio 600 als Material. Besonders beeindruckt die modulationsfähige Stimme von Pino de Vittorio – hier ist er mit einem sizilianischen Volkslied zu hören.

    "Wir wollten einen Blick auf jenes wunderschöne und grenzenlos weite Repertoire der sizilianischen Musik werfen",

    schreibt Laboratorio 600 im Textheft der CD und fährt fort:

    "Dies ist nur ein winziger Tropfen in einem ganzen Ozean magischer Klänge. Wir können diese Musik nicht so interpretieren, wie es die traditionellen Interpreten tun, denn wir stammen nicht aus ihrer kulturellen Umgebung. Aber ihre Melodien haben uns gepackt und unsere Leidenschaft geweckt."

    Diese Aussage ist charakteristisch für eine junge Generation von Interpreten der "Alte Musik-Szene". Die interessiert sich nicht mehr nur für Quellenstudium oder Fragen der historischen Aufführungspraxis – sondern auch für andere Formen und Überlieferungen der Musik vergangener Zeiten. Nicht nur klassische Kompositionen, die in Klosterbibliotheken oder fürstlichen Archiven die Jahrhunderte überdauert haben, sind Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung. Auch traditionelle, mündlich überlieferte Musik eröffnet dem heutigen Hörer faszinierende Klangwelten und einen neuen Blick auf musikalische und historische Zusammenhänge.

    Ganz besonders eindrucksvoll gelingt das Marco Beasley und dem Ensemble Accordone. Die CD "Storie di Napoli" entführt in einen mediterranen musikalischen Kosmos voller Emotion: Tragik und Temperament, Melancholie und mitreißende Rhythmen, Pathos und Humor. "Mia bella Napoli" – mit kaum einer anderen Stadt assoziiert man Gesang und Musik so unmittelbar wie mit Neapel. Für Beasley gehören nicht nur Tarantellas oder barocke Liebeslieder zum neapolitanischen Klangkosmos, sondern auch volkstümliche Klänge aus Operetten und Serenatas des 19. Jahrhunderts, humoristische Couplets der Zwanziger oder sehnsüchtige Schlagermelodien der Dreißiger Jahre. Etwa die nostalgische Erinnerung an die süße Reginella…

    Die neue Platte im Deutschlandfunk; wir stellten Ihnen heute drei CDs mit Klängen aus Süditalien vor. "Storie di Napoli" mit Marco Beasley und dem Ensemble Accordone erschien beim Label Alpha; "La Tarantella nel Salento" mit dem Organisten Liuwe Tamminga ist eine Produktion des Labels Accent. Die CD "Siciliane – The Songs of an island" erschien bei Glossa. Alle drei CDs sind über den Vertrieb "Note 1" in Deutschland erhältlich. Im Studio verabschiedet sich Thomas Daun.

    Musik:
    Marco Beasley (Sänger) & das Ensemble Accordone: "Storie di Napoli"
    Label: ALPHA LC 00516 Best.-Nr: Alpha 532

    Liuwe Tamminga, Organist: "La Tarantella nel Salento"
    Label: ACCENT (belgisch) Best.-Nr: ACC 24236

    "Siciliane – The Songs of an island"
    Label: GLOSSA Best.-Nr: GCD P 33001