Aufarbeitung von Geschichte in Erfurt

Wenn jüdische Grabsteine Teil von Parkhaus-Wänden sind

Nahaufnahme der hebräischen Schrift auf dem bis dato ältesten jüdischen Grabstein Erfurts aus dem Jahr 1259, der 2012 bei Bauarbeiten gefunden worden war.
Der bis dato älteste jüdische Grabstein Erfurts aus dem Jahr 1259 wurde 2012 bei Bauarbeiten gefunden. © picture alliance / dpa / Martin Schutt
Von Henry Bernhard · 08.06.2018
Nach jüdischem Verständnis sind Friedhöfe für die Ewigkeit bestimmt. In Deutschland wurden sie aber oft wie ein Steinbruch behandelt: Grabsteine wurden Baumaterial, landeten etwa in Mauern oder Straßen. In Erfurt entdeckte man zuletzt welche beim Bau eines Parkhauses.
Alexander Kessler strahlt Dampf auf einen mittelalterlichen Grabstein. Der liegt in zwei Teilen vor ihm. Hebräische Schriftzeichen sind darauf zu erkennen, gut erhalten, leicht lesbar für den Schriftkundigen.
"Den muss ich nochmal zusammenkleben. Da hat sich beim Umdrehen das ein bißchen verschoben. Und deshalb habe ich die Fuge noch mal gelöst, reinige das jetzt und klebe das wieder zusammen, dass das eine schöne Ebene wieder wird, mit einer möglichst engen Fuge, dass man dann praktisch die Klebestelle zwar schon sieht, aber die Klebestelle so dünn wie möglich gehalten wird."
Kessler studiert Restaurierung an der Fachhochschule Erfurt. Der jüdische Grabstein ist eine Projektarbeit.
Alexander Kessler strahlt Dampf auf einen mittelalterlichen Grabstein. Er studiert Restaurierung in Erfurt.
Alexander Kessler strahlt Dampf auf einen mittelalterlichen Grabstein. Er studiert Restaurierung in Erfurt.© Deutschlandradio / Henry Bernard
"Stellen, die man praktisch beim Zusammensetzen vorgefunden hat, deuten daraufhin, dass die mit Spaltwerkzeugen geteilt wurden oder auf das Maß geteilt wurden, dass sie als Mauersteine dann gepaßt haben. Also wurden diese völlig instand befindlichen Grabsteine mutwillig geteilt, um als Mauersteine Verwendung zu finden. Und wir fügen jetzt praktisch das zusammen und ergänzen die Form, dass man einfach die ursprüngliche Form wieder erkennen kann."

Grabsteine in Mauern und Fußböden

Der Grabstein stammt aus dem frühen 13. Jahrhundert. Und wirkt fast wie neu. Obwohl er aus robustem Sandstein gehauen ist, wäre er aber normalerweise schon so weit verwittert, dass die Schrift kaum noch erkennbar wäre. Vermutlich hat der Grabstein aber nur etwa 200 Jahre auf dem jüdischen Friedhof außerhalb der Erfurter Stadtmauer gestanden, erzählt Thomas Stemmler, Professor für Stein-Restauration.
"Das hängt damit zusammen, dass die Grabsteine ja schon Mitte des 15. Jahrhunderts von dem jüdischen Friedhof abgebaut worden sind und in Bauwerken verbaut worden sind, sodass die also keine direkte Bewitterung erfahren haben. Deshalb entspricht die Farbigkeit der natürlichen Farbigkeit des Sandsteins."
Ein jüdischer Grabstein, der aus dem 13. Jahrhundert stammt und nun an der FH Erfurt bearbeitet wird.  
Der jüdische Grabstein, der von Alexander Kessler bearbeitet wird, stammt aus dem 13. Jahrhundert.© Deutschlandradio / Henry Bernard
1454 vertrieben Erfurter Bürger die Juden aus der Stadt, ihre Häuser, ihre Synagoge fielen an die Stadt und den Kaiser. Der Friedhof wurde schon kurze Zeit darauf geräumt, die Grabsteine verbauten die Erfurter in Mauern und Fußböden. Sie finden sich noch heute bei Sanierungs- und Bauarbeiten im ganzen Stadtgebiet.
Alexander Kessler:
"Das ist ein Kalkmörtel, so wurde früher praktisch auch gebaut. Diesen Kalkmörtel haben wir weitgehend so belassen, haben natürlich den Stein auch gereinigt von Staub- und Schmutzauflagerung. Aber wo es möglich war, haben wir natürlich die Mörtelreste erhalten. Man spricht von der Sekundarverwendung; und das sind praktisch die Zeichen, die gehören zur Geschichte der jüdischen Grabsteine auch dazu, dass die eine Zeitlang als Mauersteine verwendet wurden - etwa in einem Kornspeicher, der direkt auf dem Friedhofsgelände errichtet wurde."

Beim Bau einer Tür gefunden

Die Archäologin Karin Sczech führt am Großen Ackerhof, dem mittelalterlichen Kornspeicher, vorbei. Seit einigen Jahren ist der Kornspeicher ein Parkhaus. Bei den Umbauarbeiten fanden die Handwerker im Boden noch mittelalterliche Gräber. Die Grabsteine gab es auch noch – man hatte sie einst in den Wänden verbaut.
"Hier sieht man, wie die Mauer weiter läuft. Das ist die Flucht von dieser Zwingermauer. Und in der sind auch wieder die Grabsteine verbaut gewesen. Und der letzte Schwung Steine, den wir dann geborgen haben, der stammt tatsächlich von einem ganz kleinen Eingriff. Man hat eine Tür für das Gebäude hier durchgebrochen, und dabei waren die Grabsteine einfach im Stapel geborgen worden."
Die Stelle ist nicht leicht zu finden. Das Grundstück ist abgesperrt, der Weg durch den Vorgarten nur auf Anfrage möglich. Karin Sczech sucht, bis sie auf einen kleinen Stein in der Mauer direkt über dem Boden weist.
Autor:
"Ah ja! Wir sehen hier sozusagen drei hebräische Schriftzeichen direkt in der Ecke!"
Karin Sczech:
"Genau. Mitten in der Mauer. Also, es sind nicht nur die drei Buchstaben, die wir hier sehen, sondern es kommt die nächste Schriftzeile, die auch natürlich schwer zu lesen ist. Also, es ist mal wieder eines von den kleinen Fragmenten, wo man nicht viel rausfinden kann."
Jüdischer Grabstein in der Mauer eines ehemaligen Kornspeichers in Erfurt, der heute ein Parkhaus ist. Er befindet sich in der Ecke knapp über dem Boden.
Jüdischer Grabstein in der Mauer eines ehemaligen Kornspeichers in Erfurt, der heute ein Parkhaus ist. Er befindet sich in der Ecke knapp über dem Boden.© Deutschlandradio / Henry Bernhard
Der Stein wird in der Mauer bleiben, sie ist selbst von historischem Wert. Ebenso wie zum Beispiel ein anderer Grabstein, der im Fundament eines alten Stadttores verbaut ist.
Alle in den letzten Jahrzehnten gefundenen Fragmente, aber auch ganze Grabsteine, stehen nun in einem Schaudepot in der Erfurter Innenstadt, in einem Gewölbekeller im mittelalterlichen jüdischen Siedlungsgebiet. Nicht ständig geöffnet, aber durch regelmäßige Führungen zugänglich. Um die 100 Steine, deren Inschriften zum großen Teil noch sehr gut sichtbar sind.
"Die sind tatsächlich nur gereinigt und sind in dem tollen Zustand, weil sie verbaut waren. Wenn sie an der Luft gewesen wären, wären sie abgewittert. Es ist immer diese Zwiespältigkeit: Das ist ja beim Erfurter Schatz ganz genauso: Es ist solchen dramatischen Ereignissen auch geschuldet, dass sie bewahrt bleiben, da hat man natürlich ein zwiespältiges Gefühl! Wäre die Synagoge nicht umgebaut worden, sondern bewahrt gewesen als Synagoge, wäre sie wahrscheinlich auch nicht mehr da."

Bewahrt durch Zweckentfremdung

Die Grabsteine sollen Teil der Bewerbung Erfurts um die Aufnahme des jüdischen Erbes in die UNESCO-Weltkulturerbe-Liste sein, neben der Alten Synagoge, der Mikwe, also dem jüdischen Ritualbad, dem Goldschatz. 2021 steht die Bewerbung an. Dafür verantwortlich ist die Kunsthistorikerin Maria Stürzebecher. Sie freut sich am endlich zugänglichen Schaudepot und übersetzt die Inschrift des Grabsteins - gut erhalten, aus dem Jahr 1245. Ein ungewöhnlich langer Text, der nach den üblichen Formeln weiter geht:
"'Amen Selah' steht hier. Und eigentlich sind wir hier am Ende der Inschrift. 'Eine Perle an jeglichem Ort, wohin sie geht, ist sie eine Perle. Verloren ist sie nur für ihren Ehemann, Yitshak bar Pesah. Hanelah, ich bin verbannt, doch meine Seele ist heiter bei ihrem Herabsteigen und Aufsteigen.' Also, sehr persönlich! 'Hanelah, anigule', also 'Hanelah, ich bin verbannt' – das ist wirklich außergewöhnlich! Das haben wir ganz selten auf Grabsteinen, aber wir haben es eben. Und das ist das Besondere generell an diesen Objekten, an diesen Monumenten, dass wir damit irgendwo so diese persönliche Ebene bekommen, was wir bei Gebäuden schwierig haben; selbst bei dem Schatz ist es nicht so einfach, und mit diesen Inschriften hat man diese persönliche Verbindung über die Jahrhunderte, das finde ich schon was Besonderes. Und das hätte ich auch nie gedacht, dass diese erst mal ein bißchen sperrige Objekte das ermöglichen."
Grabsteine im Schaudepot in der Erfurter Innenstadt. Dort befinden sich die Grabsteine und Fragmente, die in den vergangenen Jahrzehnten gefunden wurden.
Im Schaudepot in der Erfurter Innenstadt befinden sich die Grabsteine und Fragmente, die in den vergangenen Jahrzehnten gefunden wurden.© Deutschlandradio / Henry Bernard
Auch dieser Stein ist in der Grundmauer eines Gebäudes in der Nähe des früheren jüdischen Friedhofs gefunden worden.
"Das ist grundlegend bei fast allem, was wir hier in Erfurt an jüdischem Erbe haben – das ist so! Also, wenn die Dinge nicht zweckentfremdet, umgenutzt, nicht mehr genutzt worden wären, wären sie heute nicht mehr da. Oder in einem anderen Zustand. Ja, das ist das Paradox! Das ist aber auch unsere besondere Verantwortung. Das ist das Glück, das wir haben; und da müssen wir mit adäquat umgehen.
Im Fall der Grabsteine heißt das auch: Die Spuren der Zweckentfremdung nicht zu beseitigen, den Missbrauch sichtbar zu lassen, wie der Restaurator Thomas Stemmler betont:
"Wir arbeiten ja hier im Auftrag unserer Gesellschaft, die meines Erachtens eine Gesellschaft ist, die ihre Identität eben aus ihren Kunst- und Kulturgütern zieht. In diesen Objekten ist unsere Geschichte mit Schuld und Verdienst materialisiert. Und wichtig ist, dass die Ergänzung als Ergänzung erkennbar bleibt. Ich habe mir da von Bertolt Brecht den Begriff des Verfremdungseffektes ausgeborgt, dass der Betrachter also auf den zweiten Blick sieht: 'Aha, da ist eine Veränderung, die nicht zum Ursprünglichen dazu gehört!' - und aus diesem Widerspruch der Gestalt, der Ästhetik des Objektes dann möglicherweise seine Frage formuliert: Warum sieht das denn so aus?
Mehr zum Thema