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Melodramen in Venedig

Am Teatro La Fenice in Venedig sind zwei Opern im Doppelpack zu sehen, die Ende des 19. Jahrhunderts fast gleichzeitig entstanden sind: Pietro Mascagnis "Cavalleria rusticana" erzählt eine sizilianische Dorfgeschichte um einen betrogenen Ehemann. Mit "Sarka" erschuf Leos Janacek ein blutrünstiges Mythenstück aus der tschechischen Sagenwelt.

Von Christoph Schmitz | 12.12.2009
    Das Fenice versucht seit einiger Zeit, alte Gewohnheiten zu durchbrechen und neue Konstellationen zu erproben. Die einaktigen Verismus-Klassiker "Bajazzo" von Leoncavallo und "Cavalleria rusticana" von Mascagni liefert die Lagunenoper nicht wie üblich im Doppelpakt. Zum Ende der Spielzeit 2008 kombinierte der künstlerische Direktor Fortunato Ortombina den "Bajazzo" mit der ersten Zwölftonoper der Musikgeschichte "Von heute auf morgen" von Arnold Schönberg und ließ die musikalischen Quantensprünge aufeinander wirken. Das versuchte er auch gestern Abend mit dem Zusammenprall der "Cavalleria" und der "Sarka", dem einstündigen Frühwerk von Leos Janacek. "Sarka" ist nur zwei Jahre vor der "Cavalleria" entstanden, also 1888. Während Mascagni sich mit leuchtendem Klangzauber unters einfache sizilianische Dorfvolk mischte, holte Janacek den Spaten heraus und begann in seiner dunklen tschechischen Heimaterde nach Klang- und Geschichtenstoff zu graben und hob mit "Sarka" ein finsteres Mythenstück.

    Als tschechischer Patriot mit einem ordentlichen antideutschen Ressentiment ausgestattet erschien ihm die Geschichte um den Kampf des Matriarchats gegen das aufkommende Patriarchat als urtschechische Story. Die wilde Kämpferin Sarka verliebt sich in den Prinzen, der die Männerherrschaft verteidigen will, an einen Baum gefesselt lockt sie ihn an, verbringt eine Liebesnacht mit ihm, lässt ihn anschließend meucheln und springt sich erdolchend in den Scheiterhaufen des Ermordeten. Die Männer haben am Ende gesiegt. Der für seine Filme mit Goldenen Löwen und Palmen ausgezeichnete Regisseur Ermanno Olmi hat die Geschichte ganz und gar in mythischer Zeit belassen, an einer Aktualisierung Richtung moderne Frauenemanzipation hatte er null Interesse. Als griffen Janaceks Hände selbst in den Untergrund, ragen die schweren Wurzeln eines Baumes ins Erdreich aus schwarzem Fels. In Rüstungen und mit Speeren und Bögen bewaffnet bekriegen sich die Frauen- und Männerheere. Die Musik von Janacek klingt so schwarz, wie das Gesteinsmassiv auf der Bühne aussieht, und ist auch genauso glotzig und grob. Die starken Sänger hatten bei der Premiere Mühe über den Orchestergraben hinauszukommen.

    Der Komponist wusste, warum er diesen ersten Opernversuch nach vier Vorstellung in Brünn eigenhändig wieder eingrub. Er suchte seinen Personalstil von nun an lieber mittels Muttersprache und Volkslied. Mit der "Cavalleria" ist die Bühne im zweiten Teil des Opernabends morgendlich erleuchtet. Das Sonnenlicht breitet sich aus über den Boden aus kalkweißem Stein. Die Dörfler um 1900 versammeln sich froh unter freiem Himmel, womit Regisseur Ermanno Olmi einen befreienden Kontrast zur rabenschwarzen "Sarka" aufstellt.

    Der Dirigent Bruno Bartoletti schwang sich mit dem Fenice-Orchester zu reinem Schönklang auf, der alle Rauheiten und Dissonanzen der Partitur in sich aufsog, ohne an Expressivität zu verlieren. Ein überragendes Sängerensemble krönte den Ausklang der Spielzeit 2009, allen voran eine dunkel-leuchtende Anna Smirnova als Santuzza.

    Und dann kommt der entscheidende szenische Augenblick, worauf der ganze Abend, einschließlich "Sarka", ausgerichtet ist: Zum großen festlichen Ostersonntagschor vor dem tödlichen Zweikampf ziehen die Dörfler über Seilwinden etwas aus dem Boden, die Erdkruste bricht förmlich auf, und aufgerichtet wird ein schwarzes Riesenkreuz, das aus den verkohlten Überresten des mythischen Scheiterhaufens der Sarka besteht. Das sieht spektakulär aus, schafft eine verblüffende Verbindung zwischen den beiden Werken, ist aber inhaltlich völlig daneben gegriffen. Das christliche Kreuzsymbol hat mit Archaismen des "Sarka"-Mythos so wenig zu tun wie Mascagnis "Cavalleria" mit einem kirchenkritischen Blick auf sizilianische Verhältnisse der Jahrhundertwende. Thema verfehlt, würde ein Lehrer, notieren.