Dienstag, 30. April 2024

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Pianist Chilly Gonzales (Teil 1)
Mit Pantoffeln in Versailles

Jason "Chilly Gonzales" Beck reißt mit seiner Musik Grenzen ein. Der 1972 in Kanada geborene und derzeit in Köln lebende Musiker studierte Jazz-Piano, spielte zunächst Pop und arbeitete mit Feist, Mocky und Peaches. Im Pariser Schloss Versailles präsentierte er zusammen mit dem Hamburger Kaiser Quartett sein Album "Chambers".

Am Mikrofon: Tim Schauen | 18.09.2015
    Chilly Gonzales im Bademantel am Konzertflügel, begleitet von den Musikern des "Kaiser Quartetts"
    Kammermusik in Versailles: Chilly Gonzales und das Kaiser Quartett (Alexandre Isard)
    Er spielte auch auf dem Berliner Glenn-Gould-Festival und mit Helge Schneider. 2015 veröffentlichte er sein Album "Chambers", auf dem er - unterstützt von den Streichern des Kaiser Quartetts - Pop und Kammermusik verbindet. Zwar wie üblich im Bademantel, aber dennoch mit verblüffend festlichem Ergebnis.
    Aufnahme vom 31.3.15 in der Bibliothek von Schloss Versailles bei Paris.
    Chilly Gonzales Interview Teil 1 (06:51)
    "In Frankreich gibt es die Gruppe Blogothèque. Sie hatten die Idee, ein ganz besonderes, intimes Konzert für das Album "Chambers" zu organisieren. Ich sagte ihnen nur: Findet etwas, dass wirklich besonders ist. Ich will nicht, dass das Konzert in einer coolen Hipster-Kunstgalerie stattfindet. Ich bin nur daran interessiert, wenn wir an dem Ort des Konzertes eine Art surrealistische Poesie kreieren. Sie kamen zurück und sagten: Wir können in das ehemalige Büro des Außenministers von Louis XIV. Und es war wirklich surreal: In diesem Raum mit nur 40 oder 50 Zuhörern. Die ganze Umgebung in Versailles hat uns inspiriert. 400, 500 Jahre später kommt jemand wie ich mit meiner Haltung - und kann etwas zu dieser Atmosphäre hinzufügen. Das war wirklich poetisch für uns. Es passte perfekt zu dem, was ich mir vorstellte: Es war lustig und berührend zugleich, dort gewesen zu sein.
    Ich glaube nicht, dass Menschen theoretisches Wissen benötigen, um Musik zu verstehen. Sie benötigen vielleicht eher die Haltung von einem Studenten: den Wunsch über das, was sie lieben, etwas zu lernen. Theorie und Analyse bedeutet nichts, wenn du nichts fühlst. So ist es auch bei mir. Die Leute fragen mich manchmal: Ist es schwer für Dich Musik zu hören, weil du sie immer analysierst?
    Eine Art bewundernswerter Geist
    Danke, wenn ihr denkt, ich sei eine Art bewundernswerter Geist, ein autistisches Genie. Das ist nicht der Fall. Ich bin wie jeder andere auch: Ich muss etwas fühlen, wenn ich Musik höre und wenn ich nichts fühle, dann ist es mir gänzlich egal, wie die Musik entstanden ist. Wenn es mir aber gefällt, weil es bei mir Emotionen auslöst, mich über etwas nachdenken lässt, dann kann es für mich interessant sein, hinter den Vorhang zu schauen. Dann will ich mehr darüber erfahren.
    Ich versuche nicht, die ganze Welt in eine Welt aus Musikinteressierten umzuwandeln. Aber es gibt Menschen, die Musik lieben und sich dafür interessieren, aber nicht wissen, wie sie dieses Interesse einsetzen sollen. Das ist zu schade, denn ich liebe Musik. Ich bin vielleicht in einer komischen Position, weil ich Musik mit den Fachbegriffen für musikalische Techniken und aus Büchern gelernt habe. Die meisten guten Musiker haben ein System von Musik im Kopf. Zum Beispiel Peaches, Feist, Jarvis Cocker – mit denen ich zusammen gearbeitet habe. Sie wissen nicht zwangsläufig den Namen für das, was sie da tun. Aber sie nutzen die gleichen musikalischen Techniken, die auch ein Komponist nutzt.
    "Ist musikalische Symmetrie nicht etwas Wundervolles?"
    Genau das versuche ich, in meinen "Popmusic masterclasses" im Internet zu verdeutlichen. Zum Beispiel an einem Poplied von Taylor Swift; da wird musikalische Symmetrie verwendet, und dann gebe ich Beispiele von musikalischer Symmetrie in klassischer Musik, in Filmmusik, in älterer Popmusik – das funktioniert heute noch. Ist musikalische Symmetrie nicht etwas Wundervolles, etwas, dass das Ohr hören will?Wenn man mehr über Musik erfahren will, muss man nur wissen: Kommt ein neuer Musikstil auf, dann ist meistens die Technik für diesen neuen Stil verantwortlich. Wie in der elektronischen Musik – da geht es mehr um die Instrumente, die benutzt werden. In der Rap-Musik dagegen geht es um eine soziale Botschaft, auf postmoderne Art wird hier ältere Musik als Basis für neue Musik verwendet. Das ist die Idee des Samplings.
    "Wir kombinieren immer wieder diese zwölf Noten auf unterschiedliche Arten"
    Aber das ist nicht wirklich neu, auch diese Musik besteht aus zwölf Noten. Wir kombinieren immer wieder diese zwölf Noten auf unterschiedliche Arten, die Harmonik und Melodie einbeziehen und eine Geschichte erzählen. Musikstile kommen und gehen aber so etwas wie musikalische Symmetrie besteht für immer. Das sind die Dinge, auf die ich mich mit meiner Botschaft des musikalischen Humanismus konzentriere.
    Ich will, nicht sagen, dass sich Rap wenig von anderen Musikstilen unterscheidet, es gibt sogar einen gewaltigen Unterschied: Rap ist eine Revolution und hat Einfluss darauf genommen, wie wir über Musik denken! Aber die musikalischen Bausteine haben sich nicht verändert. Im Rap werden die Dinge nur auf eine neue Art und Weise - und vor allem mit einer neuen sozialen Botschaft und mit neuer Technologie - kombiniert. Das macht Rap-Musik wirklich andersartig und zu meinem Lieblingsmusikstil. Rap ist für mich der einzige Musikstil, der heute zählt. Es ist eine Reflektion unserer Zeit, und wir bekommen immer die Musik, die wir verdienen: Rap ist die Musik, die wir jetzt verdienen.
    Die Menschen heute folgen Technologie, und die kommt im Moment vor allem in elektronischer Musik und in Rap-Musik zum Einsatz – deswegen liegt in neuen Techniken auch die Zukunft der Musik. Ich bediene mich hingegen alter Techniken und versuche damit, die Musik von heute zu verdeutlichen. Ich will ein Mann meiner Zeit sein, Meine Karriere ist vom heutigen Humor beeinflusst und beinhaltet eine Menge Ironie. Wir leben in Zeiten von Reality-Fernsehen. Deswegen ist der Weg in die Öffentlichkeit auch immer ein Weg sich selbst zu überhöhen. Vor allem Rap hat diese Vorstellung, dass es in Ordnung ist, seine Fantasien auf der Bühne auszuleben, neu definiert.
    "Sei kein Fake. Sei du selbst!"
    Vorher war es üblich, möglichst authentisch zu sein. Besonders bei den Singer/Songwritern. "Sei kein Fake. Sei du selbst!" Rapper haben hingegen bewiesen, dass Du auch Du selbst sein kannst, während Du Deine Fantasien auslebst. Eine Fantasie beinhaltet auch Wahrheit - eine sehr intime Wahrheit. Meine Fantasie ist ein arrogantes musikalisches Genie zu sein, und das spiele ich auf der Bühne. Weil es meine Fantasie ist, ist es kein Fake, keine Täuschung. In Wirklichkeit wünschte ich, ich wäre ein musikalisches Genie. Das ist der Grund, warum Chilly Gonzales existiert."
    Interview: Constanze Pilaski