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Film der Woche: "Call Me by Your Name"
O lieb, so lang du lieben kannst

Mit vier Nominierungen – bester Film, Hauptdarsteller, Drehbuch und Song - geht am 4. März der Film "Call Me by Your Name" ins Oscar-Rennen. Die Liebesgeschichte zweier junger Männer ist die Verfilmung von André Acimans Roman "Ruf mich bei deinem Namen".

Von Jörg Albrecht | 27.02.2018
    Timothee Chalamet spielt den 17-jährigen Elio Perlman, der einen unvergesslichen Sommer verbringt.
    Timothee Chalamet spielt in Guadagninos "Call me by your name" den 17-jährigen Elio Perlman, der einen unvergesslichen Sommer verbringt. (imago stock&people)
    Elio hockt vor dem Kamin und starrt in die Flammen. In Großaufnahme fängt die Kamera sein Gesicht ein, das vom Feuerschein erhellt wird. Unterlegt ist die dreieinhalb Minuten lange Einstellung mit Visions of Gideon, einem Lied von Sufjan Stevens. Elio lässt noch einmal den letzten Sommer Revue passieren und kann seine Tränen nicht zurückhalten.
    Wenn diese Szene in "Call Me by Your Name" zu sehen ist, läuft bereits der Abspann über die Leinwand und wir werden – genau wie Elio – noch einmal innehalten und an unsere eigenen gelebten sowie nicht gelebten Beziehungen denken. Und nicht wenige von uns werden darüber zu dem Urteil gelangen, gerade einen der wohl klügsten, sinnlichsten und wahrhaftigsten Filme über das Leben im Allgemeinen und die Liebe im Besonderen gesehen zu haben, der je gedreht wurde. Dabei sind die zwei vorausgegangenen Stunden ähnlich unspektakulär wie die gelungene, 1995 mit "Before Sunrise" begonnene Liebestrilogie von Richard Linklater.
    Ohne jede Eile
    "Elio, Oliver. Oliver, Elio." - "Hallo!"- "Freut mich. Willkommen."
    Der 17-jährige Elio, halb Italiener, halb US-Amerikaner, trifft 1983 in der norditalienischen Lombardei auf Oliver, einen Doktoranden aus New England. Der will bei Elios Vater, einem Archäologieprofessor, ein Praktikum machen. Schauplatz ist die Villa von Elios Eltern, in der die Familie - wie jedes Jahr - den Sommer verbringt.

    "Kann ich die Sachen aufs Zimmer bringen?"
    - "Ja klar. Danke."
    -"Mein Zimmer ist jetzt dein Zimmer. Ich bin nebenan."

    Elio wird Oliver herumführen. Sie werden mit dem Rad die Gegend erkunden und über Gott und die Welt sprechen.
    "Und was treibst du hier so?"
    - "Bücher lesen, Musik transkribieren, im Fluss schwimmen, abends ausgehen. Ich weiß nicht."
    - "Okay Kumpel, dank dir für deine Hilfe."
    Es könnte der Beginn einer Freundschaft sein. Nicht mehr. Wären da nicht schon früh diese kurzen Momente, die von dem Wunsch nach größerer Nähe künden. Regisseur Luca Guadagnino schildert all das ohne jede Eile. "Call Me by Your Name" lässt sich Zeit, zunächst die Temperamente der beiden jungen Männer zu ergründen. Auf der einen Seite der gebildete Professorensohn, noch unerfahren in Liebesdingen, aber zu Experimenten bereit, auf der anderen der charmante, selbstbewusst auftretende und schon so erwachsen wirkende Gast.
    "Die Piaveschlachten gehören zu den verlustreichsten des Ersten Weltkriegs."
    -"Gibt es auch etwas, das du nicht weißt?"
    -"Wenn du wüsstest, wie wenig ich über die Dinge weiß, auf die es ankommt."
    -"Von welchen Dingen sprichst du?"
    -"Du weißt genau welche Dinge."
    -"Wieso erzählst du mir das?"
    -"Weil ich finde, dass du es wissen solltest."
    Auf keinen Fall Problemkino
    Für das Begehren, die sexuelle Erweckung und die Suche nach Orientierung braucht es hier keine großen dramatischen Entwicklungen, keine Katharsis und auch keine Metaphern. "Call Me by Your Name" will auf gar keinen Fall Problemkino sein. Es geht weder ums Coming-out, noch um gesellschaftliche Widerstände oder innere Konflikte.
    "Call Me by Your Name" ist ein Film, der von den wahren Werten des Lebens erzählt und die tiefe Verbundenheit, ja die Seelenverwandtschaft zu einem anderen Menschen als höchstes Gut feiert. Das Menschenbild der Romantik wirft seine langen Schatten. Die Selbstverständlichkeit, diese Themen mittels einer homosexuellen Beziehung zu transportieren, ist aber der wahre Coup des Films. Man könnte Timothée Chalamet und Armie Hammer, die Elio und Oliver spielen, stundenlang dabei zuschauen und zuhören, wie sie ihre Nähe von Tag zu Tag mehr leben.
    "Das klingt irgendwie anders. Hast du es abgewandelt?"
    - "Ja, ich habe es ein bisschen abgeändert."
    -"Wieso?"
    -"Ich habe es in etwa wie Liszt gespielt, wenn er Bachs Version interpretiert hätte."
    1845 hat der gerade erwähnte Franz Liszt das berühmte Gedicht "O lieb, so lang du lieben kannst" von Ferdinand Freiligrath vertont. Als dieser die Verse schrieb, war er gerade einmal 19 Jahre jung. Elio lernt seine Lektion fürs Leben schon mit 17.