Dienstag, 30. April 2024

Archiv


Entwurzelt und gedemütigt

Unter den Nationalsozialisten mussten viele Juden aus ihrer Heimat fliehen und verloren alles. Ihre Geschichte erzählt der Historiker Wolfgang Benz anhand von 22 Biografien. Die Lebensläufe erzählen von Verfolgung und Widerstand, Flucht und Exil sowie vom Leben nach der Katastrophe.

Von Otto Langels | 23.01.2012
    Willy Vogelsinger, ein gelernter Schneider, war Jude und Kommunist. Er versuchte, Widerstand gegen das NS-Regime zu leisten und war am 28. Februar 1933 in Berlin in der Nähe des brennenden Reichstags unterwegs, um Aufrufe für einen Generalstreik zu verteilen. Als am 1. April "Achtung Jude! Besuch verboten!" an seiner Wohnungstür stand, tauchte er unter und floh nach Prag. Es folgte eine langjährige Odyssee über Luxemburg und Frankreich nach Spanien. 1946 kehrte er zurück – nach Ost-Berlin, denn als Kommunist wollte er ein besseres Deutschland aufbauen. Doch schon bald war Vogelsinger tief enttäuscht vom realen Sozialismus. Er ging in den Westen, wo er wieder als Schneider und schließlich als Kartenabreißer in einem Kino arbeitete. Die letzte Zeit, schreibt Wolfgang Benz in seinem Porträt über Willy Vogelsinger, verbrachte er im Altersheim, zeitweise mit einem alten Nazi als Zimmergenossen:

    "Das gewöhnliche Schicksal des deutschen Juden, der ein glühender Antifaschist ist, der als Kommunist ins Exil geht und auf seine alten Tage dann dem Nationalsozialismus doch nicht entrinnt."

    Wolfgang Benz versammelt in seinem Buch knapp zwei Dutzend Porträts deutscher Juden und überrascht den Leser, der meint, aus einer Vielzahl von Gesamtdarstellungen und Biografien längst alles Wesentliche über die deutsch-jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu wissen. Denn der Autor bereichert das Bekannte in einem lesenswerten Buch mit neuen, interessanten Details. Das Ehepaar Heller, dem Ende 1939 in letzter Minute die Flucht gelang, erreichte auf abenteuerliche Weise Palästina, wurde aber sofort von den Briten nach Mauritius deportiert. Viereinhalb Jahre war das Paar auf der Insel interniert, bevor es nach Palästina reisen durfte. Friedl Heller starb wenige Tage nach der Ankunft. Wolfgang Benz widerspricht der Ansicht, das Exil habe Sicherheit, Aufstieg und Wohlstand geboten, und verweist auf den gescheiterten Lebensentwurf der Ärztin Hertha Nathorff, die an der fehlenden Berufsperspektive im New Yorker Exil zugrunde ging.

    "Damit soll natürlich auch diese Legende, dieser Mythos aufgelöst werden, diejenigen, die sich rechtzeitig ins Ausland begeben konnten, denen ging es gut, die haben dann herrlich und in Freuden den Nationalsozialismus überstanden. Dass das Exil auch eine Form von Vernichtung sein konnte, dafür steht Hertha Nathorff."

    Die im Buch beschriebene Karriere Michael Blumenthals als erfolgreicher Unternehmer, amerikanischer Finanzminister und, im hohen Alter, Direktor des Jüdischen Museums Berlin, ist eine Ausnahme, denn die meisten Biografien handeln vom Überlebenskampf, von zerstörten Karrieren und sozialem Abstieg.

    Lilly Neumark entging dem Holocaust, indem sie untertauchte und bei Angehörigen der bekennenden Kirche Unterschlupf fand.

    In den Pfarrhäusern aber war sie einem Antisemitismus ausgesetzt, der, so Wolfgang Benz, Hitler alle Ehre bereitet hätte.

    "Da ist das Rettungsmotiv einmal, man will sich doch von einer anständigen Seite zeigen, zum anderen aber auch, diese Jüdin für den christlichen Glauben gewinnen und damit ein frommes Werk tun."

    Lily Neumarks Erfahrungen in evangelischen Pfarrhäusern greift Wolfgang Benz auf, um die sogenannte deutsch-jüdische Symbiose Anfang des 20. Jahrhunderts zu hinterfragen. Eine soziale und kulturelle Gleichstellung der Juden, wie sie einige Historiker rückblickend für die Weimarer Republik konstatieren, hält Benz für eine nachträgliche Verklärung. Ohne eine lange Tradition der Ausgrenzung hätte der Nationalsozialismus nicht so schnell so erfolgreich sein können.

    "Die Geschichten meiner Porträts zeigen ja auch, dass es keine Symbiose gegeben hat. Da wird etwas instrumentalisiert, ähnlich wie in den letzten Jahren Muslimfeinde ein christlich-jüdisches Abendland konstruieren, das es nie gegeben hat."

    Wolfgang Benz ordnet seine Porträts chronologisch. Die biografischen Skizzen erzählen von Verfolgung und Widerstand, Flucht und Exil sowie vom Leben nach der Katastrophe. Neben bekannten Personen wie Michael Blumenthal, Heinz Galinski und Ignatz Bubis stehen Unbekannte wie der russische Kontingentflüchtling Julius Wolfenhaut oder die Autorin Ruth Körner, in deren Leben nach 1933 Entwurzelung, Demütigung, Armut und Einsamkeit dominierten. Naturgemäß steht Westdeutschland im Vordergrund, da nur wenige Juden nach 1945 in der DDR bleiben wollten. Zu den Ausnahmen zählt Salomea Genin, eine – wie der Autor schreibt – exaltierte Frau, rastlos, klug, mitteilsam, provozierend, eine glühende Kommunistin. Sie wollte unbedingt in die DDR, aber die Genossen ließen sie nicht einreisen. Erst als sie sich der Stasi als "Kundschafterin" andiente, durfte sie in den Osten.

    "Die sich dann von der Stasi auch missbrauchen lässt, um als Jüdin in der DDR zu leben, wobei sie dann in der DDR ihre kommunistische Ideologie verliert und ihre jüdische im Widerstand gegen die Verhältnisse, gegen die Situation eigentlich erst gewinnt. Eine höchst zwiespältige, aber nicht außerordentliche, nicht einmalige, nicht einzigartige Erscheinung."

    Die 22 Porträts sind von unterschiedlicher Intensität, aber es sind viele ungewöhnliche, irritierende und spannende Biografien darunter, die Wolfgang Benz klug ausgewählt hat, durch politisch-historische Verweise ergänzt und in gelassenem Tonfall erzählt. Das 20. Jahrhundert gilt gemeinhin als Epoche der Extreme. Und in diesem Buch finden sich zahlreiche biografische Belege dafür, dass das vorige Jahrhundert diesen Namen zu Recht trägt.

    Wolfgang Benz:
    Deutsche Juden im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Porträts.
    Verlag Beck, 335 Seiten, 26,95 Euro
    ISBN: 978-3-406-62292-2