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Salzsklaven auf Sinui
Teuflische Zustände auf den südkoreanischen Engelsinseln

Das südkoreanische Meersalz gilt als das beste Salz der Welt. Gewonnen wird es auf den sogenannten Engelsinseln vor der Südspitze Südkoreas. Eine davon ist Sinui. Die Hälfte der 2.000 Bewohner arbeitet in der Salzindustrie. Aber nicht alle werden für ihre Arbeit bezahlt. Statt Lohn gibt es Beschimpfungen und Prügel.

Von Jürgen Hanefeld | 16.10.2016
    Natürliches rosafarbenes Meersalz von der Krim.
    Auf den südkoreanischen Engelsinseln müssen Sklaven für die Salzgewinnung schwere körperliche Arbeit leisten. (dpa/ picture alliance/ Taras Litvinenko)
    Die Fähre nach Sinui verlässt den Hafen von Mokpo in aller Herrgottsfrühe. Um 6.40 Uhr legt sie ab. Viereinhalb Stunden ist sie unterwegs, ohne jeden Komfort, wenn man von vier Plastikhockern hinter der Reling absieht. Die meisten Passagiere holen Schlaf nach. Sie fläzen sich auf den dünnen Matratzen herum, die in der großen Mittelkabine liegen. Ein brüllender Fernseher ist das einzige Möbelstück.
    Die Fähre nach Sinui ist spottbillig, nicht für Touristen gedacht, sondern für Arbeiter und die Fahrer der LKW, die unten auf dem Autodeck verstaut sind. Jeder kennt jeden, so scheint es.
    Wir werden nicht lange bleiben. Hier gibt es kein Hotel, keine Pension, kein Restaurant. Auf Sinui gibt es nur einen Gemischtwarenladen, der alles verkauft, was man hier braucht: Schaufeln, Pulverkaffee, Konserven und Plastikrohre. Und von dem aktenkundig ist, dass der Sohn der Chefin einen Sklaven an der Flucht gehindert hat, in dem er seinen Besitzer anrief. "Hol ihn hier ab!", soll er gesagt haben. Die Chefin schweigt.
    Höllische Verhältnisse
    Sinui gehört zu den 1.004 "Engelsinseln" an der Südspitze Koreas, doch die Verhältnisse sind höllisch. Fernab der glitzernden Metropole Seoul werden hier, in der Gluthitze der Salzpfannen, Sklaven gehalten - heißt es. Wir suchen nach Zeugen für das ungeheuerliche Gerücht. Gleich an der Straße stapft ein altes Ehepaar durch die glitschige Saline. Der Mann guckt skeptisch, als wir halten, aber seine Frau plaudert munter los.
    "Ja, wir haben von der Zwangsarbeit gehört. Aber ich glaube, das gibt es nicht mehr. Die Provinzpolizei kommt regelmäßig vorbei, um das zu prüfen. Wir haben das sowieso nicht gemacht. Aber wir sind trotzdem bestraft worden. Unser Ruf hat gelitten, weil die Leute denken, wir hätten das auch gemacht."
    Obwohl es heißt, das Salz von Sinui sei das beste der Welt, bringe die Arbeit in den Salzpfannen nicht mehr viel ein, sagt ihr Mann, der sein Misstrauen allmählich verloren hat:
    "Mein Großvater hatte schon diese Farm, mein Urgroßvater auch, wir sind also die vierte Generation. Früher hatten wir sogar Angestellte. Jetzt sind wir nur noch zu zweit. Es ist eine harte Arbeit."
    "Man wird nicht reich davon, ergänzt sie. Man überlebt, kann Kinder großziehen, aber die sind nicht mehr auf der Insel. Vererben werden wir das also nicht."
    Jahrhunderte alte Arbeit
    Die Art, Salz zu gewinnen, ist seit Jahrhunderten dieselbe. Wenn das Meerwasser in der Salzpfanne verdampft ist, werden die weißen Kristalle zusammengerecht, getrocknet und in Säcke gefüllt. Das war schon immer so. Die einzigen mechanischen Hilfen sind primitive Loren für den Transport auf den Feldern und motorbetriebene Förderbänder, mit denen das Salz in Schuppen zu Halden getürmt wird. Ist der Schuppen voll, kommt der LKW.
    Dann müssen alle anpacken. In einem scheunenartigen Gebäude schaufeln drei schweißgebadete Muskelmänner das Salz in einen Trichter, die Frauen halten die 20-Kilo-Säcke darunter. Das maschinenartige Gleichmaß erinnert an Chaplins "Modern Times". Keiner darf langsamer sein, keiner schneller, niemand den Rhythmus stören. Nach wenigen Sekunden ist ein Sack gefüllt, gewogen und zugebunden, bevor er durch die Hände einer Menschenkette läuft und auf der Pritsche des LKW seinen Platz erhält. 1.300 Säcke à 20 Kilo passen auf den Laster, dann ist die maximale Zuladung erreicht. ]
    Ein Farmer, der sich als Sklavenhalter vor Gericht rechtfertigen musste, erklärte, es sei "ungeheuer schwierig" eine Salzfarm ohne Behinderte zu betreiben. "Normale Menschen würden hier nicht arbeiten, selbst wenn wir sie anflehen". Tatsächlich geht es bei den Männern, die auf Sinui ausgebeutet werden, oft um geistig Behinderte, deren mentale Entwicklung 12- bis 14-jährigen entspricht, bestätigt Rechtsanwalt Choi Jungkyu.
    "Man trifft sie als Obdachlose an den Bahnhöfen, dort bekommen sie manchmal einen Job als Tagelöhner. Und dann kommen illegale Vermittler, die den Leuten sagen, da unten auf den Salzfarmen gäbe es Arbeit für sie. Das Geld bekämen sie später. Das ist natürlich eine Straftat, denn sie bekommen ja gar keinen Lohn."
    Kein Geld und Prügel statt Lohn
    Die Opfer leisten Sklavenarbeit. Sie besteht darin, das Salz mit großen Rechen umher zu schieben, damit es schneller trocknet, und es am Ende in Loren zu schaufeln. Keine schwierige Arbeit, aber eine beinharte. Vor allen Dingen, wenn sie sieben Tage die Woche 14 Stunden andauert. Die einzige Gegenleistung sind drei Mahlzeiten am Tag und ein Schlafplatz. Obendrauf kommen häufig noch Prügel.
    Die illegalen Agenturen verdienen an der Vermittlung 1 Million Won pro Mensch, das sind 800 Euro. Wie häufig kommt das vor? Anwalt Choi zuckt die Achseln. Vor zwei Jahren hat er mit seiner Hilfsorganisation 60 Männer auf Sinui befreit. 40 davon seien, nach einem außergerichtlichen Vergleich, zu ihren Familien zurück gekehrt. Die Entschädigungen waren Almosen. Die übrigen 20 wohnen in einem Obdachlosenheim, ihre Prozesse laufen noch. Aber sind das alle? Er schüttelt den Kopf.
    "In diesen ländlichen Regionen können sich solche Zustände ewig halten. Das grundlegende Problem ist ja, dass sich ihre Familien vielleicht noch um sie kümmern, solange sie Kinder sind. Aber wenn sie erwachsen werden, geht das nicht mehr. Es gibt sogar Fälle, in denen die Familien selber ihre erwachsenen Kinder in diese Verhältnisse abschieben, weil sie nichts mit ihnen anfangen können. Sie werden sozusagen entsorgt."
    Die Stimmung auf Sinui ist zeitlos, eintönig und archaisch zugleich. Kein Baum, kein Strauch ist stehengeblieben. Jeder Quadratmeter wird genutzt. Etwas Reis für den Hausgebrauch, vor allen Dingen aber Salz soweit das Auge reicht. Das beste Meersalz der Welt - oder zumindest Koreas.
    Ganz im Süden der Halbinsel sind die Bedingungen dafür offenbar ideal: Die Sonne brennt erbarmungslos auf die rechteckigen Pfannen nieder, die von den Bauern täglich mit schlammigem Meerwasser geflutet werden. Was nach nicht einmal zwei Tagen übrig bleibt, ist das weiße Gold. Salz, das jeder Mensch, jedes Lebewesen braucht. Park Chan-che ist 87, Salzfarmer in der dritten Generation:
    "Ich hatte auch Arbeiter hier, aber die Löhne waren hoch, der Salzpreis fiel, sodass ich das jetzt alles allein mache. Von wegen Sklaven! Das sind doch nur Gerüchte. Vielleicht einer unter 1.000! Das ist alles gelogen. Selbst wenn es das früher gegeben hat, heute gibt es das nicht mehr."
    Um den alten Mann zu finden, sind wir von der asphaltierten Straße abgebogen und rumpeln jetzt mit unserem Kleinbus weiter durch die Schlaglöcher der lehmigen Pisten. Es ist kaum ein Mensch zu sehen, und wenn doch, dann will er nicht mit uns sprechen. Langnasen mit Mikrofon, das kann nur Ärger bringen, denken sie womöglich und drehen sich weg.
    Auf dem Rückweg zum Dorf passieren wir noch eine große Salzfarm, auf der die Arbeit zu ruhen scheint. Kein Mensch zu sehen, oder doch? Ein dünner Mann drückt sich an die Bretterwand eines Schuppens und fixiert uns stumm. Wie ein Kind scheint er zwischen Angst und Neugierde zu schwanken. Und dann spricht er mit kaum hörbarer Stimme:
    "Ich bin ein Arbeiter hier, der Bauer gibt mir Essen und Unterkunft. Ich arbeite an jedem Tag der Woche außer in der Regenzeit, sagt er. Die Frage nach Lohn beantwortet er mit einem Kopfschütteln. Und woher kommt er? – Das hier ist meine Heimat. Ich habe aber keine Familie. Ich bin wahrscheinlich 44, weiß es aber nicht genau. Ich bin ja nur zur Grundschule gegangen. Und noch eine Frage: Hätten Sie lieber einen anderen Job? – Wenn ich könnte, ja, sagt er. Aber es ist schwierig für mich, von hier wegzukommen. Das ist ja meine Heimat."
    Staatliche Mitschuld am Sklavenleid
    Die Sklaven verstecken sich nicht, sie werden einfach übersehen. Wir haben diesen Mann, dessen Namen wir kennen, gefunden, ohne lange zu suchen. Er lebt fünf Autominuten vom Dorf entfernt, in dessen Mitte eine Polizeiwache steht. Anwalt Choi Jungkyu wundert das nicht:
    "Ich habe einen Fall, der hat jetzt zehn Jahre als Sklave gelebt. Wie kann das sein? Auch auf abgelegenen Inseln gibt es ja Polizei! In diesem Fall hat der Betroffene mehrmals versucht, zu entkommen, ist sogar selbst auf die örtliche Polizeiwache gegangen und hat gesagt, ich werde hier gegen meinen Willen festgehalten. Die Polizisten haben gesagt: Das mag schon sein, aber vielleicht ist es ja das Beste für dich, wenn du zu deinem Besitzer zurückgehst. Das haben sie mehrmals gemacht! Wir fragen uns jetzt, ob der Staat nicht eine Mitschuld trägt."
    Noch ist kein Beamter bestraft worden - etwa wegen unterlassener Hilfeleistung. Ein sehr sensibles Thema, klagt die Menschenrechtsaktivistin Park Si-In:
    "Die Farmbesitzer erzählen den Arbeitern, sie hätten so gute Kontakte mit der Polizei, dass es gar keinen Sinn hat, sich dort zu beschweren. Die Polizisten müssten diesem Eindruck eigentlich entgegenwirken, damit sich die Behinderten überhaupt trauen, sich an die Polizei zu wenden."
    Nur die Spitze des Eisbergs
    Inzwischen sind mindestens 163 Fälle von Sklaverei bekannt geworden, auch auf Nachbarinseln von Sinui. Park Si-In spricht trotzdem von einer Spitze des Eisbergs.
    "Auf den entlegenen Inseln sind sie zwar versteckt, aber sie fallen trotzdem auf. Behinderte auf den Salzfeldern zu finden, ist nicht schwer. Sie auszubeuten oder zu schlagen, ist kriminell. Aber um das abzustellen, müsste das Ganze Betreuungssystem reformiert werden. Und das Justizsystem auch. Im ersten Fall wurde der Farmbesitzer zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, aber die Strafe so reduziert, dass er nicht ins Gefängnis musste. Das war für uns eine große Enttäuschung. Die Strafen müssten viel härter ausfallen für Leute, die hilflose Menschen ausbeuten."
    Aber auch damit wäre das Problem noch nicht gelöst. Rechtsanwalt Choi Jungkyu weist auf einen nur scheinbar absurden Fall hin:
    "Ein Mann, den wir befreit hatten, wollte kurz darauf wieder zurück auf die Salzfarm mit der Begründung, für ihn gebe es ja keinen anderen Platz in der Gesellschaft. Tatsächlich können sich die Behinderten ja nicht allein versorgen, es gibt eine extreme Selbstmordquote. Ich denke aber, krank sind ja nicht so sehr diese Leute, krank ist die gesamte Gesellschaft. Die Sklavenhalter sagen, wir sind die Einzigen, die sich um die Behinderten kümmern. Das klingt zynisch, ist aber nicht ganz falsch."